„Habt bitte keine Scheu: Sprecht uns gern an oder kommt vorbei.“

Thema Wachkoma erzeugt Hemmschwellen: Haus Oase lädt alle Briloner ein neugierig zu sein, Intensivpflege in ihrer Stadt kennen zu lernen und in Kontakt zu treten. „Wir aktivieren Ihre Sinne, wo es nur möglich ist, indem wir

Thema Wachkoma erzeugt Hemmschwellen: Haus Oase lädt alle Briloner ein neugierig zu sein, Intensivpflege in ihrer Stadt kennen zu lernen und in Kontakt zu treten.

„Wir aktivieren Ihre Sinne, wo es nur möglich ist, indem wir sie möglichst viel einbeziehen.“
Frauke Im Moore, Einrichtungsleiterin im Haus Oase

Gudenhagen-Petersborn. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war: Ein Unfall, ein Herzinfarkt, Komplikationen nach einem verschleppten Infekt – so viele Ursachen können zum Herzstillstand führen. Mit der fatalen Folge, dass das Gehirn schlimmstenfalls Minuten lang keinen Sauerstoff bekommt. Wenn die Schädel-Hirn Verletzung zu gravierend ist, können Menschen nach der akuten Behandlung in ein so genanntes Wachkoma fallen. Das bedeutet, sie brauchen dauerhaft 24-Stunden-Pflege, inklusive Stimulation und Mobilisierung. Was nun? Nur selten können Angehörige die aufwändige Betreuung stemmen. Brilon hat das Glück, einen Ort zu haben, wo Menschen mit dieser schweren Behinderung leben können: im Haus Oase, das zur CharlestonGruppe gehört.

Das Wachkoma oder auch apallische Syndrom entsteht durch schwere Schäden an der Großhirnrinde, welche Denkprozesse und Wahrnehmung steuert. Menschen im Wachkoma haben wache wie schlafende Phasen. Auch lebenswichtige Funktionen wie Blutdruck oder Atmung sind erhalten. Ihr Bewusstsein ist unterschiedlich stark eingeschränkt bzw. verändert. Wie viel sie wirklich wahrnehmen, ist letztlich nicht endgültig belegbar. Sie können in der Regel nur sehr eingeschränkt mit ihrer Umwelt kommunizieren und brauchen Intensivpflege.

Gemeinsam mit ihrem Team hat Einrichtungsleiterin Frauke Im Moore, die seit der Eröffnung im Jahr 2006 im Haus Oase arbeitet, einen großen Wunsch: „Wir möchte den Brilonern sagen: Wir sind hier, habt keine Scheu vorbeizukommen. Wir möchten besonders auch den Menschen, die bei uns leben, eine Lobby geben.

“ Sie weiß: „Es gibt eine Hemmschwelle, zum Beispiel, wenn wir unterwegs sind, weil unsere Bewohner ja mit einer ganz eigenen Körperhaltung im Rollstuhl sitzen. Dazu kommen die Beatmungsgeräte, Ernährungspumpen, die Trachealkanüle am Hals, die Urinbeutel. Wir freuen uns, wenn wir angesprochen werden!“ Die Bewohner führen ihr Leben im Haus Oase im Rahmen ihrer Möglichkeiten und bei bester Betreuung. Damit ist viel mehr als Pflege gemeint. Stetig wird ihnen ein Angebot gemacht, Alltag zu erleben. Sie werden in ihre Rollstühle mobilisiert, um mit dabei zu sein. Genau das bedeutet Oase, sagt die Einrichtungsleiterin.

„Wir aktivieren ihre Sinne, wo es nur möglich ist, indem wir sie möglichst viel einbeziehen. Und wir sind mutig, unternehmen zum Beispiel auch regelmäßig Ausflüge mit ihnen bis hin zu Urlauben an Nord- und Ostsee. Nicht alle Einrichtungen machen das so wie wir.“ Frauke Im Moore weiß, dass sich mit dem Thema Wachkoma kaum jemand Unbetroffenes gern auseinandersetzt. „Das ist ja völlig ok. Wichtig ist uns aber, dass die Briloner wissen, sie finden hier Hilfe, für sich und Angehörige, sollten sie diese brauchen. Die nächste stationäre Intensivpflege befindet sich Ruhrgebiet.“ Gemeinsam mit ihrem Team kümmert sie sich, nicht weit vom Waldfreibad und in direkter Nachbarschaft zur Christophorus-Seniorenresidenz, um derzeit 23 Intensiv-Patientinnen und Patienten. Die meisten sind wegen einer schweren Hirnschädigung hier, manche aber auch wegen chronischer Lungen- oder Muskelerkrankungen“, erklärt Frauke Im Moore. Beatmungsplätze gehören mit zum Angebot.

Eine große Familie aus Bewohnern, Mitarbeitern und Angehörigen
Im Haus selbst sind alle eine große Familie: Von den rund 50 Mitarbeitenden über die Bewohnerinnen und Bewohner bis hin zu den Angehörigen. „Hier zu arbeiten oder sich zu engagieren ist intensiv in jeder Hinsicht.

Man lernt die nonverbale Kommunikation der Menschen.

Wir wissen im Laufe der Zeit, was ein Bewohner will, es zeigt sich durch unterschiedliche Andeutungen im Muskeltonus, in der Mimik, bei der Atmung oder vielleicht sogar durch eine Augenbewegung“, sagt Frauke Im Moore. Der Verlauf ist unberechenbar. Es kann vorkommen, dass jemand schon nach zwei Tagen im Haus verstirbt. Oder aber, dass er fast zwei Jahrzehnte
und länger bleibt. Fast von Beginn an, seit 17 Jahren, wohnt zum Beispiel Alex Seibel in Gudenhagen. Seine Eltern sind neben drei weiteren Familien die tragende Säule des Fördervereins, der sich aus den Angehörigen herausgebildet hat. Mit 37 Jahren kam er ins Haus Oase – nach einer Lungenembolie. Vorausgegangen war ein Infekt. Zwei- bis dreimal die Woche kommen seine Eltern zu Besuch und immer wieder packen sie mit an. Jüngster riesiger Einsatz war der Bau der neuen Gartenhütte, den der Förderverein vom Finanziellen über die Gespräche mit Anwohnern und Stadt bis in zum kompletten Aufbau in Eigenregie übernahm. Und selbstverständlich waren die Bewohner mit dabei. Jene, die konnten und die auch wollten. Das ist immer oberstes Prinzip.
„Draußen mäht der Trecker? Wir gehen raus. Die Hütte wird aufgebaut, inklusive Baulärm, buddeln und graben? Unsere Bewohner sind dabei. Wir haben hier jeden Tag Alltagsleben, aber auch Wellness: Fußbäder drinnen und Musik draußen, Kuchen backen oder Haare schneiden. Wir bitten den Postboten die Karte persönlich abzugeben und die Bewohner erleben den Haustechniker im Arbeitseinsatz.

Sie sehen, riechen, spüren – alle Sinne sind dabei“,

sagt Therapeutin Tanja Saßmannshausen und betont: „Viele genießen es, wenn sie den Kuchen oder die Pizza riechen, den Mixer hören und in ihrer Hand spüren.“ Diese Elemente der basalen Stimulation ermöglichen Erinnerungen an vergangene Zeiten, fördern das Gedächtnis und die Motorik. Allerdings: „Manche leiden auch, möchten spürbar selbst gern essen.“ Dann werden sie selbstverständlich zu anderen Aktivitäten eingeladen.

Besucher jederzeit willkommen
Vom Chor bis zum Politiker und zum Therapiehund, vom Sommerfest bis zum Winterbasar: Immer wieder kommt gern Besuch von außerhalb in die Einrichtung und ist dort immer willkommen. „Richtig schön war zuletzt das Konzert mit den Bläserklassen des Petrinums im Juni. Die Kinder sind hinterher einfach mit Blumen in der Hand durchgegangen. Waren sie erst etwas skeptisch, wie sie den Bewohnern die Blume hinlegen sollten, erschien dies schon nach kurzer Zeit als selbstverständlich. Da tun wir Erwachsenen uns doch schwerer“, betont die Therapeutin. Einfach ist es für Besucher nicht, zu erleben, wie sehr eingeschränkt die Bewohnerinnen und Bewohner sind, zumal viele noch lange nicht das Rentenalter erreicht haben. „Für uns als Mitarbeiter sind sie so normal, wie sie sind, aber sie sind schwerkrank. Immer wieder kann ein Krankenhausaufenthalt anstehen, weil sie gefiebert haben oder ein Schlauch verstopft war. Die Belastung für Angehörige ist sehr groß. Aber hier treffen sie Leute, die sie verstehen, weil sie ähnliche Schicksale haben“, sagt Tanja Saßmannshausen.

Wiederkommen aus dem Wachkoma
ist ein langwieriger Prozess Die Frage, sie steht noch im Raum: Ist schon mal jemand komplett wiedergekommen? „Ja, wir haben mehrere, wo einiges wiedergekommen ist. Dass aber jemand wach wird und nach einer Cola fragt, wie manchmal zum Beispiel im Fernsehen geschildert, haben wir noch nicht erlebt. Es ist ein langwieriger Prozess. Bei manchen Bewohnern kompensiert das Gehirn über die Jahre die Schäden so weit, dass sie wieder über Augen kommunizieren oder Sprechbewegungen machen bzw. eine Hand bewegen können. Eine Seniorin, die einen Schlaganfall hatte, ist nach und nach so weit wiedergekommen, dass sie wieder reden und mit Unterstützung essen konnte. Sie lebt nun drüben in der Seniorenresidenz“, sagt Frauke Im Moore.

„Ich vermag nicht zu urteilen, ob jemand ein Leben im Wachkoma-Zustand wirklich noch führen möchte oder nicht. Denn letztlich hat sich die Lebensform ja dann geändert. Ein gesunder Mensch
sagt in der Regel, das würde ich niemals wollen. Mit meiner Erfahrung bin ich aber heute vorsichtiger und meine, wie übrigens viele Kollegen: Es lohnt sich, erstmal abzuwarten, was noch wiederkommt. Wir könnten hier wirklich Bücher schreiben, so viel Emotionales erleben wir. Sicher 200 Bewohnerinnen und Bewohner sind in den 18 Jahren, die ich hier bin, schon verstorben, auch das gehört dazu. Ich bin aber inzwischen überzeugt und habe das auch mal gelesen, dass ein Mensch ein Stück weit selbst mitentscheidet, wann er geht. Auch unser Alex stand schon
so oft auf der Kippe und hat doch gekämpft. Und dies immer wieder bis heute. Um hierzubleiben.