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„Fachkraft“ Huberta erzählt von Spitzbuben und Stadtgeschichte

Wir Briloner Esel sind weltoffen und allem Neuen gegenüber aufgeschlossen, das weiß jeder. Wir Hubertas hängen es aber nicht an die große Glocke. Wir sind genügsam und bescheiden – aber auch neugierig. Weil wir mit unseren Eseltreibern immer auf Trab sind, hatten unsere Vorfahren um 1735 den seltsamen Zeitgenossen sofort entdeckt. Er fiel auf, weil er nicht hierhin gehörte. Keiner kannte ihn. Mit Zeichenblättern und Stiften ausgerüstet, wurde er östlich und westlich der Stadt gesehen. Schnell stellte sich heraus, dass es der wallonische Maler
Reniér Roidkin war. Entwarnung: Er hatte die Aufgabe, alle kurkölnischen Besitzungen zu zeichnen, so auch Brilon. Das fanden alle Esel ganz toll, obwohl sie selber nicht gezeichnet wurden. Durch den Maler verfügen wir heute über zwei Skizzen unserer stolzen Stadt, die den geschlossenen Mauerring mit vier Stadttoren und elf bzw. zwölf Türmen zeigt. Jeder, der die Stadt verlassen oder besuchen wollte, musste eines der vier Stadttore passieren. Die Namen der Stadttore wurden zu unterschiedlichen Zeiten dokumentiert. So ist bewiesen, dass unsere Eselvorfahren seit 1382 durch die Keffliker Porte zum Dorf Keffelke trabten. Dort steht heute noch die Antoniuskapelle, in der Fickeltünnes immer noch verehrt wird. Seit 1399 ist der Name Ledriker Porte bekannt. Unsere Voresel verließen die Stadt durch die Ledriker Porte zum Weiler Ledriken und nach Buren, wie Altenbüren in alten Zeiten hieß. Diesen Weg nahmen wir Esel mit unseren Eseltreibern auch, wenn wir das Korn zu den Aamühlen transportieren mussten. Der Name Kruseker Porte ist seit 1454 aktenkundig. Später wurde es Kreuziger Tor genannt. Der Name bezieht sich auf einen Weiler oder Einzelhof Kratzingen oder Kraizingen. Das haben unsere Eselvorfahren nicht genau notiert. Zu dem Tor führte die Kreuziger Straße, so hieß der heutige Steinweg früher. Kratzingen oder Kraitzingen lag eventuell in der Gegend des heutigen Osterhofes. Bis auf das Derker Tor sind alle diese Stadttore verschwunden. Die Derker Straße und das Derker Tor, wie sie eigentlich heißen, weisen auf den Weiler Dederinghausen im Süden der Stadt hin. Dort unterhalb des Poppenbergs gibt es heute den Dederinghauser Weg.
Wenn wir Esel morgens die Stadt verließen, konnten wir schon voraustraben. Unsere Eseltreiber ließen sich Zeit, um mit den Pförtnern ein Pröhleken zu halten. Bevor die Stadttore am Abend geschlossen wurden, mussten wir zurück sein. Dann waren die Schlagbäume noch geöffnet. Wehe, wenn es zu spät wurde, dann mussten wir uns durch ein Drehkreuz, einen Schling, quetschen. Das fiel uns nicht so schwer, weil wir schlank und drahtig waren. Weil uns der Pförtner kannte, öffnete er eine kleine Seitentür. So konnten wir noch in die Stadt gelangen. Das konnten die Übeltäter, die oben in den Gefängniskammern der Stadttore angekettet waren, durch kleine Mauerschlitze beobachten. Diese Kammern konnten nur über die Pförtnerhäuser erreicht werden. So hatten die Spitzbuben keine Chance zu entkommen. Die Pförtner mussten die Häftlinge auch verpflegen. Bei dem Ledriker Tor gab es ein ganz besonderes „Gefängnis“. Dort wurden keine Menschen, sondern Tiere eingesperrt. Es war der Pfandstall der Stadt. Wenn die beiden städtischen Pfänder, die Feldhüter, einen Bauern erwischten, der gegen die strengen städtischen Weideregeln verstoßen hatte, wurde ihm das Vieh weggenommen. Er bekam es erst zurück, wenn er die Strafe beglichen hatte. Unsere Eselvorfahren wurden im Pfandstall eingesperrt, wenn ihr Eseltreiber mit ihrer Hilfe Holz aus dem Wald gestohlen hatte. Gegen eine Geldbuße und Erstattung der Futterkosten konnten die „Nachtigallen“ wieder in Freiheit singen. Eigentlich war der Aufenthalt in dem Pfandstall gar nicht so schlecht. Die Esel ließen ihre Ohren nicht hängen, sie konnten sich ausruhen, sie hatten Urlaub von der ewigen Plackerei.
Die vier Stadttore waren durch die Stadtmauer mit einer Länge von 2166,60 m verbunden. Vor der Mauer lagen ein breiter Graben und zwei Wälle. Zwischen den Stadttoren standen jeweils drei Türme. Als die Stadtmauer mit dem Wandel der Kriegstechnik ihre Bedeutung verloren hatte, begann man um 1800 Steine der ursprünglich dicken und hohen Stadtmauer zu verkaufen. Der Magistrat ließ jedoch an den Stellen eine weniger mächtige Stadtmauer errichten. Davon sind heute noch einige Reste in den Straßen Obere und Derkere Mauer erhalten.
Leider wurden die Esel nach und nach durch Fuhrwerke ersetzt. Die Stadttore standen der neuen Zeit im Wege. Brilon wollte modern sein und das Mittelalter abschütteln. Das Keffliker Tor und das Kreuziger Tor wurden um 1811 abgerissen. Das Ledriker Tor stürzte am 9. Juli 1742 plötzlich ein. Der Magistrat ließ es sofort wieder neu aufbauen. Dennoch ließ die Stadt das Tor keine 100 Jahre später um 1840 schleifen. Obwohl es keine Abbildungen der Stadttore gibt, muss gerade dieses Tor recht aufwendig gebaut worden sein. Zu beiden Seiten des Durchganges waren Wappensteine angebracht. Einer dieser Steine mit dem Stadtwappen hat in der Front des Bildstocks zwischen den Rathausbögen überlebt. Das Derker Tor wurde 1750 wegen starker Baufälligkeit abgebrochen und anschließend von Tiroler Bauleuten wieder aufgebaut.
Unser Derker Tor war vor 100 Jahren in Gefahr. Die Stadtverordnetenversammlung beschloss am 27. Februar 1919 die Schulstraße durch den früheren Lohmannschen Garten, am Derker Tor vorbei, bis zur Hoppecker Straße weiterzuführen. Dabei war das Derker Tor den Planern eigentlich im Wege. Zum Glück erinnerte sich die Stadt in dem Zusammenhang daran, dass ein Jahrhundert zuvor die Stadtmauer mit den eingebauten Türmen und den drei anderen Stadttoren beseitigt worden waren. „Deshalb werde das einzige Denkmal des vormaligen Befestigungswerkes mit warmer Liebe und Begeisterung der Bürger geschützt“, hieß es. Welch ein Glück!
Wir Briloner Esel sind weltoffen, unseren Gästen zeigen wir gerne unsere Stadt und berichten mit Stolz von unserer Stadtbefestigung und zeigen gerne das Derker Tor.
Spitzbuben gibt es dort nicht mehr.
Eure Huberta

geschrieben von Winfried Dickel, im März 2022