Briloner Nachtigallen können gar nicht fliegen

Winfried Dickel berichtet über Esel in Brilon vom Jahr 1760 bis heute

Wir Briloner Nachtigallen haben vier Beine, lange Ohren, graue Haare und ein Mehlmaul. Gut geraten, wir „Nachtigallen“ sind Esel. Abends wurden wir nach getaner Arbeit in den Eselskamp gebracht. Dort konnten wir den Feierabend genießen, friedlich grasen und unser Iah singen. Unsere Besitzer waren begeistert und riefen: „Hört Ihr unsere Nachtigallen singen?“ Wir haben keine Flügel, dafür haben wir starke Beine und kräftige Hufe. Klar, dass man damit nicht fliegen kann, und richtig singen können wir auch nicht.

Meine Vorfahren wurden in Brilon seit alters her besonders verehrt. Das ist auch heute noch so.

Schon die Jüngsten kennen Huberta, unseren Stadtesel. Dabei ist es egal, ob die Esel Stuten, Hengste oder Wallache sind, alle heißen Huberta, alle sind Nachtigallen und können nicht fliegen. Dafür haben wir Briloner Nachtigallen andere Qualitäten. So mussten wir das Korn zu den Aa-Mühlen tragen und auf dem Weg zurück in die Stadt die Mehlsäcke schleppen. Die starken Eselbeine sorgten dafür, dass die Hubertas auch in unwegsamem Gelände Holz aus dem Wald holen konnten. Vom Kump holten sie das Wasser für ihre Besitzer und für die anderen Tiere.

Die Menschen waren auf uns Esel angewiesen. Genauso sind die Menschen in vielen Ländern noch heute auf die Hilfe von unseren Verwandten angewiesen, um zu überleben. Wer einen Esel besitzt, hat es besser. So war das auch in Brilon: Die älteste Notiz über die Anzahl von Eseln in Brilon stammt aus dem Jahr 1760. Damals wurden 110 Esel gezählt. Im Jahre 1777 wurden 181 Esel von 135 Haltern belegt, davon hielten die fünf Müller auf den Aamühlen 17 Esel. Auf Kleinschmidts Mühle gab es alleine fünf Langohren. Für sie waren absolut ehrliche „Eseljungen“ zuständig. Für die Esel mussten 9 Groschen Steuern bezahlt werden. Leute ohne Land und jüdische Familien durften dagegen keine Esel halten. Wer mit seinem Esel Korn, Mehl oder Holz transportieren wollte, musste genau wie die Wächter der Stadttore (Pförtner), Nachtwächter, Stadtknechte, Müller, Drescher, Jäger, Holzknechte, Stadtboten, Kumpmeister und Küster vor dem Magistrat den Eid ablegen, dass sie nicht multerten (betrogen). Der Eseltreibereid ist überliefert. In unsere Sprache übertragen lautet er: „Ich, Eseltreiber, schwöre bei Gott dem Allmächtigen und seinem heiligen Wort, dass ich an dem Korn, so mir die Bürger und Inwohner (Einwohner) zu Brilon in die Mollen (Mühlen) zu führen befehlen werden, keine Untreue beweisen, davon nichts nehme, oder nehmen lasse, verbrauche oder veruntreue…“

Im Jahre 1861 zählte unsere Sippe noch 63 Esel, 1864 nur noch 55. Es ist traurig, aber bei den Viehzählungen um 1900 sind keine Esel mehr aufgeführt. Wo sind sie nur geblieben? Im Jahre 1912 gab es 692 Haushaltungen, die Vieh besaßen: 277 Pferde, 1458 Stück Rindvieh, 834 Schafe, 1740 Schweine, 315 Ziegen, 5406 Stück Federvieh und 251 Bienenstöcke. Die Bauern gaben an, dass drei Kühe, 16 Schafe, 1363 Schweine und 67 Ziegen in Würsten oder Bratentöpfen gelandet waren. Ob meine Vorfahren auch in der Wurst gelandet sind?

Es wurde nur noch ein entfernter Eselverwandter aufgeführt, ein Maulesel. Sein Vater ist ein Pferdehengst und seine Mutter eine Eselstute. Der Maulesel kann aber auf keinen Fall einer der Vorfahren von Rambo aus Messinghausen, den drei Eseln an der Hiebammen Hütte und von Friedel und Festus von der Alten Hütte sein. Maulesel sind unfruchtbar und können sich nicht fortpflanzen. Das trifft auch auf Maultiere, einer Kreuzung aus Eselhengst und Pferdestute, zu.

Weil die Briloner so stolz auf uns Esel waren, wurden uns verschiedene Straßen gewidmet, darunter Eselsborn, Nachtigallenweg und Hubertusstraße. Als Huberta haben wir alle zwei Jahre unseren großen Auftritt. Dann darf eine von uns den Tross der Schnadegänger anführen. An den Schnadesteinen lassen sich die Schnadebrüder stolz mit Huberta fotografieren. Häufig werden uns Eseln Attribute wie dumm, störrisch und faul angedichtet, Menschen werden gerne „Esel“ geschimpft. Das ist in Wirklichkeit ein Kompliment: Wir Esel sind klug und gutmütig. Unsere scheinbare Sturheit ist vielmehr ein Abwägen gefahrvoller Situationen und hat nichts mit Dummheit zu tun. Statt wie ein Pferd mit Fluchtinstinkt zu reagieren, bleiben wir Esel lieber stehen und wägen
die Situation ab. Dann gehen wir zielstrebig unseren Weg. Wir Esel haben also etwas mit dem Briloner und dem Sauerländer an sich gemeinsam. Vor allen Dingen sind wir arbeitsam, zuverlässig und treu.

Wir können nicht singen und fliegen, trotzdem sind die Briloner stolz auf uns Nachtigallen.

  • Huberta findet man z.B. heute hier: In der Königstraße wartet Huberta mit dem Eseltreiber Isenberg auf Besucher.
  • Im Museum Haus Hövener haben Hubertas als Schmuckanhänger, Briefständer, Steckenesel sowie Esel als Kuscheltiere ihren Stall und warten auf neue Besitzer.
  • Mit Hubertas Malbuch erkunden die Kinder ihre Stadt.